* 42 *

Ein Gesicht, halb Ratte, halb Mensch, leuchtete unheimlich im gelben Licht von Septimus’ Drachenring. Jenna unterdrückte einen Schrei.
Ephaniah Grebes Körper lehnte in der gegenüberliegenden Ecke des Baumhauses, an eben der Stelle, wo das Gespenst ihn verlassen hatte, um in den gelenkigeren Körper des Mautners zu fahren. Sein Kopf hing nach vorn wie bei einer kaputten Puppe, und seine weißen Gewänder sahen aus wie ein Haufen schmutziger Laken, die darauf warteten, gewaschen zu werden. Jenna sah auf den ersten Blick, dass Ephaniah nicht bewohnt war – der Unterschied zum letzten Mal, als sie ihn gesehen hatte, war unverkennbar. Diesmal war er es wirklich – sie empfand nicht den geringsten Abscheu, spürte keine Fremdheit und nichts von dem Gefühl der Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit, das der bewohnte Ephaniah bei ihr hervorgerufen hatte. Und sie sah, dass an seinem kleinen Finger kein Ring steckte. Sie eilte zu dem Rattenmann und nahm seine Hand. Sie war kalt.
»Oh, Sep, kannst du etwas ... hören?«, flüsterte sie.
Septimus wusste, was sie meinte. Er lauschte auf das Geräusch eines menschlichen Herzschlags. »Ich glaube nicht«, antwortete er und fügte, als er die Bestürzung in Jennas Gesicht sah, eilends hinzu: »Aber das will nichts heißen. Ich höre nur Beetles Herzschlag, langsam und gleichmäßig, und deinen, und der ist ziemlich laut.«
»Oh«, sagte Jenna überrascht. »Entschuldige. Und was ist mit deinem?«
»Den eigenen kann man nicht hören«, antwortete Septimus. Er überlegte kurz. »Wir versuchen es mit der alten Methode.«
Er kniete neben Ephaniah nieder und zog seine Rettungsdose aus der Tasche. Die Dose war vollgestopft mit Dingen, deren Nutzen Jenna schleierhaft war. Er fischte einen kleinen runden Spiegel heraus und hielt ihn dicht unter Ephaniahs leicht geöffneten Mund, aus dem zwei lange, schmale Zähne hervorstanden. Ein leichter Beschlag erschien auf dem Glas. »Gut«, sagte Septimus. »Er atmet noch.«
»Oh, Sep, das ist wunderbar.« Sie streichelte sanft die weiche Nase des Rattenmanns, entzückt, wie gut die menschlichen Züge und das Rattenfell zueinanderpassten. Während sie über das Fell strich, zuckten Ephaniahs Lider und öffneten sich für einen Augenblick. »Er hat mich gesehen«, flüsterte sie. »Seine Augen haben gelächelt. Er wird wieder gesund. Ich weiß es.«
»Es wird eine Weile dauern, bis wir das mit Gewissheit sagen können«, sagte Septimus, der von der Heilkunst genug verstand, um zu wissen, dass nichts sicher war. »Aber zumindest hat er eine Chance.«
Das Baumhaus war überraschend behaglich, wenn auch etwas eigenartig. Es war vollständig mit groben rötlichen Fellen ausgekleidet, und wenn die Türklappe zu war, drang kein Lichtstrahl herein. Gegenüber der Ecke, in der Ephaniah jetzt lag – den Kopf auf den Decken des Mautners, die ihm Jenna als Kissen untergeschoben hatte –, stand auf einer dicken Schieferplatte ein kleiner Ofen. Nach mehreren Versuchen, ihn mit Beetles Zunderbüchse anzuheizen, brachte ihn Jenna schließlich in Gang. Septimus nahm den zerbeulten alten Kochtopf, der an einem Haken über dem Ofen hing, kletterte vom Baum und füllte ihn mit Schnee. Bevor er, den übervollen Topf balancierend, wieder ins sichere Baumhaus hinaufstieg, blieb er stehen und lauschte. Ein schauriges Heulen – dasselbe, das sie schon letzte Nacht gehört hatten – zerriss die Luft, und er spürte, wie der Boden unter seinen Füßen erzitterte.
Erschrocken blickte er sich um und sah einen langen, dunklen Schatten über den Pfad am Rande des Abgrunds huschen. Er kam direkt auf ihn zu, und schnell. Mit einem Mal wusste er, was das war – und was vorhin am Fluss, im Nebel verborgen, an ihnen vorübergeprescht war. Er verlor keine Sekunde. Er ließ den Topf fallen und flitzte nach oben. Kaum war er im Baumhaus, fing der ganze Baum an zu wackeln.
»Ein Erdbeben!«, kreischte Jenna.
Septimus schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Foryx!«
Gleichermaßen erschrocken wie fasziniert spähte Jenna zur Türklappe hinaus. Eine Herde Foryx galoppierte durch den Schnee, und zwar so schnell, dass sie nur einen langen roten Streifen aus Fellen und Hauern erkennen konnte, als sie auf dem Pfad unter dem Baum vorbeidonnerten.
»Es gibt sie also wirklich!«, staunte Jenna. »Ganz real.«
»Ein bisschen zu real«, erwiderte Septimus.
Ein paar Minuten später deutete Jenna auf die Wände des Baumhauses und fragte: »Weißt du eigentlich, was das für Felle sind?«
»Foryxfelle«, antwortete Septimus und zog eine Grimasse.
Jenna lächelte. »Das bedeutet, wenn ich mir’s recht überlege, dass wir schon im Foryxhaus sind.«
»Ich wünschte, Nicko wäre hier«, sagte Septimus bedrückt.
»Ich weiß. Ich auch.«
Jenna bat Septimus, wieder nach unten zu klettern und Schnee zu holen. »Wir hören sie ja, wenn sie wiederkommen«, sagte sie, als Septimus Widerspruch erhob. »Und achte darauf, dass der Schnee sauber ist. Wir wollen keinen Foryxsabber zum Abendessen.«
Septimus holte den Schnee in Rekordzeit. Während Jenna Hexengebräu kochte, setzte sich Septimus neben Beetle und kramte voller Vorfreude in seiner Rettungsbüchse. Endlich bekam er Gelegenheit, die Heilkünste, die er erlernt hatte, an einem richtigen Patienten zu erproben. Sein ahnungsloses Opfer schlummerte friedlich neben ihm auf dem Boden. Beetle war blass, doch sein Atem ging gleichmäßig. Das Feuer im Ofen tauchte das Innere des Baumhauses in ein behagliches gelbes Licht, und in der Wärme begannen die Foryxfelle, einen stechenden Geruch zu verströmen. Septimus hielt es für an der Zeit, Beetle zu wecken und ihm etwas Hexengebräu zu verabreichen. Er zog ein Fläschchen mit der Aufschrift Riechsalz hervor und wollte es seinem Patienten gerade unter die Nase halten, als der plötzlich die Augen aufschlug. Der Gestank der Foryxfelle wirkte so durchschlagend wie jede Flasche Riechsalz.
Beetle hatte eine klaffende Wunde hinter dem rechten Ohr, und nun, da ihm wärmer wurde, bereitete sie ihm große Schmerzen. »Autsch!«, protestierte er, als Septimus das angetrocknete Blut mit Torfmoos abwischte, das er zuvor in eine Tinktur getaucht hatte.
Jenna schaute auf, während sie drei Karamellwürfel in das kochende Wasser fallen ließ. »Du machst ihn ja ganz lila, Sep.« Sie lachte.
»Lila?«, rief Beetle. »Was treibst du denn, Sep?«
»Das ist Kristallviolett«, erklärte Septimus. »Das verhindert, dass die Wunde sich entzündet. Aber wir brauchen noch etwas, das die Wundränder zusammenhält. Warte, hier habe ich was.« Septimus zückte eine lange Nadel.
»Wofür ist die denn?«, fragte Beetle misstrauisch.
»Die? Na ja, als mich Marcellus in Heilkunst unterrichtete, nahm er mich mit zu einem Chirurgen, damit ich ihm bei der Arbeit zusehen konnte. Da kam jemand mit einer tiefen Schnittwunde, und er nähte die Ränder zusammen.«
»Er hat was getan?«, fragte Jenna mit großen Augen.
»Du machst Scherze«, sagte Beetle.
Septimus schüttelte den Kopf.
»Iiih, Sep, das ist ja ekelhaft«, rief Jenna. »Du kannst einen Menschen doch nicht zunähen wie ... wie einen Mehlsack.«
»Wieso denn nicht? Es funktioniert.«
»Aber mit mir machst du das nicht«, erklärte Beetle. »Du kannst die Nadel gleich wieder wegstecken.«
Septimus schmunzelte, froh, dass Beetle wieder ganz der Alte war. »Ich wollte dich gar nicht zunähen«, sagte er. »Deine Wunde ist nicht groß genug, außerdem ist die Stelle ungünstig zum Nähen. Ich suche nur nach einer Binde. Ah, hier ist eine.«
Mit Beetles Erlaubnis legte Septimus etwas sauberes Moos auf die Wunde und wickelte ihm einen Verband um den Kopf. Gehorsam trank Beetle das Hexengebräu, das Jenna gebraut hatte, und schlief bald wieder auf dem mit Foryxfellen gepolsterten Boden ein.
»Marcellus würde jetzt sagen, dass wir ihn alle paar Stunden wecken müssen, um uns zu vergewissern, dass er schläft und nicht bewusstlos ist«, erklärte Septimus.
»Aber wie soll er denn schlafen, wenn wir ihn dauernd wecken? «, wandte Jenna ein. »Dann ist er morgen müde und schlecht gelaunt.«
»Ich weiß«, sagte Septimus. »Ich glaube sowieso nicht, dass ihm viel fehlt. Seine Atmung ist normal.«
Jenna lächelte. »Weißt du, so furchtbar es war, als du in Marcellus Pyes Zeit gefangen warst, aber du hast dich verändert – zum Guten. Du hast etwas gelernt. Du weißt Sachen, die sonst keiner weiß. Nicht mal Marcia.«
»Ja«, erwiderte Septimus düster. Er rührte eine Weile schweigend in seinem Hexengebräu und sah zu, wie der Karamellwürfel sich immer schneller und schneller im Kreis drehte. Dann sagte er: »Ich wäre ein besserer Physikus als ein Zauberer.«
»Red keinen Unsinn«, sagte Jenna. »Du wirst ein hervorragender Zauberer. Einer der besten. Und das weißt du.«
»Marcia ist anderer Meinung.«
»Sie sagt es nur nicht.«
»Das nicht. Aber ich spüre, dass sie es denkt. Sie sagt, dass ich nur herumalbere. Und das stimmt. Ich ... ich glaube, ich will eigentlich gar kein Zauberer werden, Jenna.«
Jenna nickte. »Und ich glaube manchmal, ich will überhaupt nicht Königin werden. Es ist ein schreckliches Gefühl, wenn man etwas werden muss. Du kannst dich wenigstens entscheiden, kein Zauberer zu werden, wenn du nicht willst.«
Septimus antwortete nicht. Er schob die Hand in die Tasche und tastete nach dem Questenstein. Er glaubte nicht, dass er noch häufig Gelegenheit bekommen würde, irgendwelche Entscheidungen zu treffen. »Jenna«, sagte er.
»Was ist, Sep?« Jenna sah ihn sorgenvoll an.
»Ach ... nichts.« Er konnte es ihr nicht sagen.
Später, als es dunkel geworden war und Jenna und Beetle schliefen, NachtUllr vor dem Eingang lag und selbst Ephaniah gleichmäßig atmete, zog Septimus den Stein aus der Tasche. Jenna bewegte sich, und er steckte ihn schnell wieder ein – doch zuvor hatte er noch gesehen, dass aus dem Gelb ein mattes Orange geworden war: Orange, dir zu sagen, dich hinüberzuwagen. Und jetzt wusste Septimus genau, was damit gemeint war.
Als Septimus am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich von den muffigen Ausdünstungen der Foryxfelle wie erschlagen. Es war noch dunkel im Baumhaus, und dass es Tag war, merkte er nur daran, dass eine kleine rote Katze ungeduldig miaute, weil sie hinauswollte. Er hob die Türklappe an der Ecke etwas an, und mit hoch erhobenem Schwanz stolzierte Ullr hinaus in die Morgenluft. Einen Augenblick später landete er mit einem dumpfen Plopp! im Schnee unter dem Baum und begab sich auf die Jagd nach einem Frühstück, das verlockender war als getrockneter Fisch.
Ungeübt in der Kunst, Baumwühlmäuse zu fangen, mussten sich die Bewohner des Baumhauses, was das Frühstück anging, anderweitig behelfen. Sie setzten Wasser auf und wälzten die Frage, ob getrockneter Fisch interessanter schmeckte, wenn man ihn mit Karamell aufkochte. Septimus fand Gefallen an der Idee, doch Jenna war dagegen. Beetle erwachte mit Kopfschmerzen und einem steifen Hals und lehnte mürrisch sowohl Fisch als auch Karamell ab, egal ob getrennt oder zusammen.
Septimus beendete die Diskussion Fisch oder Karamell, indem er Weidenrindenstreifen aus seiner Rettungsdose in den Topf mit kochendem Wasser warf und einen Tee kochte, den er Beetle zu trinken gab. Der Tee schmeckte so bitter, dass Beetle würgen musste, aber eine halbe Stunde später ging es ihm schon viel besser und er half Jenna, noch drei von Sams Päckchen zu öffnen. Zum Vorschein kamen ein paar klebrige Rosinenkuchen, die Melissa für Jo-Jo gebacken hatte, und ein langes Stück getrockneter Speck. Plötzlich erschien das Frühstück viel verlockender.
Septimus beschloss, Ephaniahs Puls zu messen. Er fragte sich, ob er bei ihm an der üblichen Stelle war. Er war, obwohl weiches Rattenfell sein Handgelenk bedeckte. Sein Puls war schwach, aber gleichmäßig, und Septimus war überzeugt, dass er tief und fest schlief und nicht bewusstlos war, aber er fand nichts in seiner Rettungsbüchse, womit er dem Rattenmann irgendwie hätte helfen können. Er brauchte einfach etwas Zeit, um sich zu erholen, und dann etwas gegen die wiederkehrenden Albträume, unter denen jeder litt, der bewohnt worden war.
Am späten Vormittag – nach Beetles geräuschlos tickender Uhr – waren sie mit Frühstücken fertig und beschlossen, Ephaniah im Baumhaus zurückzulassen, damit er in Ruhe genesen konnte, und auf dem Rückweg abzuholen. »Nicko ist stark«, sagte Jenna. »Mit seiner Hilfe wird es viel einfacher sein, Ephaniah in den Wald zurückzubringen.«
Septimus schwieg dazu. Er glaubte nicht daran, dass sie zurückkommen würden, geschweige denn mit Nicko, aber hier im Baumhaus war Ephaniah sicher – jedenfalls sicherer, als sie es sein würden.
Jenna kniete neben dem Rattenmann nieder, deckte ihn mit Foryxfellen zu und machte es ihm bequem. »Auf Wiedersehen, Ephaniah«, sagte sie. »Wir müssen gehen, aber wir kommen bald wieder.« Ephaniahs Schnurrhaare zuckten, und Jenna strich ihm über die Stirn. »Sie werden wieder gesund.« Ephaniah öffnete halb die Augen. »Er wacht auf!«, rief Jenna.
Ephaniah bemühte sich, Jenna anzusehen. Er stöhnte und hob unablässig die Hand. Sie nahm seine Hand und legte sie ihm sanft wieder auf die Brust, doch er sträubte sich dagegen. Sie ließ die Hand los und sah zu, wie seine langen, knochigen Finger in die Falten seines Gewands oben am Hals fassten. »Was ist?«, fragte sie. »Haben Sie Halsschmerzen?«
Als Antwort zog Ephaniah etwas aus einer verborgenen Tasche und drückte es Jenna in die Hand. Dann schloss er mit einem tiefen Seufzer die Augen und fiel wieder in tiefen Schlaf.
Jenna starrte auf ihre Hand. Darin lag ein schwach glänzendes, rundes Stück Papier, das mit einer Unzahl feiner Bleistiftstriche bedeckt war. Im ersten Moment fragte sie sich, was das sein mochte, aber nur im ersten Moment. Und dann wusste sie es – es war das fehlende Teil der Karte. Das Foryxhaus.